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Antisemitismusbekämpfung auf dem Seelisberg

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Der Seelisberg ist weithin als Dorf über der Rütliwiese bekannt, seit dem 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft 1991 auch als erster Etappenort des „Weg der Schweiz“, wenn man von Rütli aus unterwegs ist. In vielen Schweizer Köpfen ist zudem das ehemalige Hotel Kulm von Seelisberg auch religiös konnotiert: Von 1971 bis 1991 hatte es Maharishi Mahesh zu seinem wichtigsten Zentrum für Transzendentale Meditation gemacht. In jenen Jahren stellte das Zentrum des Yogi aus Indien ein befremdliche Kuriosität des Hippie-Mystizismus dar, auf das die zahlreichen Fahrer auf der Gotthardroute blickten, thront das Hotel doch weithin sichtbar über dem Vierwaldstättersee. Geheimnisvoll verwaist wurde es vor einem Jahr zum Verkauf angeboten. Dass im Hotel in der ersten Augusttagen des Jahres 1947 aber Religionsgeschichte geschrieben worden ist, ist heute über Fachkreise hinaus wenig bekannt.

Zum 75-Jahr-Jubiläum der „Internationale Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus“ wird nun jedoch in diesem Jahr zum ersten Mal der mit 20 000 Euro dotierte „Seelisbergpreis“ in Frankfurt a. M. verliehen. Jährlich sollen in Zukunft mit dem Preis Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die sich um das jüdisch-christlichen Verhältnis verdient gemacht haben, sei es auf wissenschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Ebene. Die Seelisbergkonferenz gilt heute als Wiege des jüdisch-christlichen Dialogs. Die erste Preisträgerin wird die Amerikanerin Prof. Amy-Jill Levine, emeritierte Professorin für Jüdische Studien und Neues Testament. Als Jüdin hat sie die Texte des Neues Testament aus ihrem jüdisch-messianischen Kontext der Zeit kommentiert. Eine besondere Frucht ihres Schaffens ist „Das Neue Testament. Jüdisch erklärt“, das seit 2021 auch auf Deutsch vorliegt, oder auch „The Pharisees“ (2022), das ein Standardwerk für eine Neubeurteilung der Pharisäer werden dürfte. Mit ihren Beiträgen, die Bibel mit jüdischen wie mit christlichen Augen vergleichend zu lesen, ist sie einem breiten, englischsprachigen Publikum bekannt geworden.

Der Preis wird vom Zentrum für interkulturelle Theologie und Religionen der Universität Salzburg und dem Internationalen Rat von Juden und Christen (ICCJ) vergeben. Ersteres ist seit letztem Jahr in einem Grossprojekt engagiert, um den jüdisch-christlichen Dialog sowohl auf der Ebene der theologischen Grundlagenforschung als auch der gesellschaftlichen Meinungsbildung weiterzuentwickeln. Dabei arbeitet das Zentrum mit Partnern wie der gemeinnützigen Eugen-Biser-Stiftung in München sowie der jüdischen Leo-Baeck-Foundation und der Katholischen Akademie, je in Berlin, zusammen. Die Gründung des ICCJ wurde 1947 auf dem Seelisberg angeregt und ein Jahr danach an der Universität Freiburg i. Ü. vollzogen. Doch erst in den 1960 konnte dieser Internationale Rat seine volle Wirkung entfalten und die nationalen Gesellschaften in Europa und Nordamerika fruchtbar koordinieren. Der Sitz des ICCJ, der jährliche eine internationale Konferenz zu gesellschaftlichen und religiösen Aspekten des jüdisch-christlichen Verhältnisses veranstaltet, hat seinen Sitz im Martin-Buber-Haus im deutschen Heppenheim.

In der Schweiz hat das Institut für jüdisch-christliche Forschung an der Universität Luzern das Verdienst, in den letzten Jahren in einem vom Schweizerischen Nationalfond finanzierten Projekt die Seelisbergkonferenz von 1947 erforscht zu haben. Zwei Jahre nach Kriegsende war zwar Nazi-Deutschland besiegt, doch nicht der Antisemitismus. Über 70 Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, Erziehung und Bildung, sowie aus den verschiedenen Kirchen und dem Judentum trafen sich, was zu einer Pionierkonferenz für interreligiöse Zusammenarbeit mit gesellschaftlicher Relevanz werden sollte. Einerseits wurden Hilfeleistungen für Kriegsflüchtlinge diskutiert, andrerseits Massnahmen erarbeitet, wie in Politik und Medienarbeit, in Erziehung und in den Kirchen der Verachtung der Juden entgegenzutreten ist. Der Aufruf an die Kirchen, der den inzwischen als „Die 10 Thesen von Seelisberg“ bekannten Text enthält, gilt als Durchbruch für Verständigung zwischen Juden und Christen.

Über den jüdischen Historiker Jules Isaak, der seine Familie in der Schoa verloren hatte, und andere Persönlichkeiten, die an der Seelisbergkonferenz teilgenommen haben, laufen direkte Kontakte zu Papst Johannes XXIII. Dieser setzte die Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1963-1965) auf die Agenda. So finden sich einige Sätze von Seelisberg fast wörtlich zwanzig Jahre später in der Konzilserklärung Nostra aetate zum Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen. In der Forschung wie in den Religionsbüchern aller christlichen Konfessionen sind heute die Standards, die Seelisberg gefordert hat, umgesetzt, nämlich Jesus und die frühe Kirche als jüdische Bewegung zu verstehen und zu würdigen. Auch die Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus hat sich seither bekanntlich breit entfaltet. Die institutionellen Trägerschaften haben sich ausdifferenziert. In der Schweiz steht gerade die 1990 von Sigi Feigel, dem ehemaligen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) gegründete „Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus“ ganz in der geistigen Tradition der Seelisbergkonferenz. Die Bekämpfung von Antisemitismus ging nämlich schon damals einher mit der Sensibilität für jegliche Diskriminierung einer Minderheit und wollte überparteilich Bildung und Erziehung, Politik und Recht mitprägen.

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