O Weisheit,
die du aus dem Mund des Höchsten hervorgingst,
umspannend von einem Ende bis zum anderen
mit Macht und mit Milde ordnend das All:
komm, zu lehren uns
den Weg der Klugheit. O Adonai
und Führer des Hauses Israel,
der du Mose in der Feuerflamme des Dornbuschs erschienst
und ihm auf dem Sinai das Gesetz gabst:
komm, uns zu erlösen
mit erhobenem Arm.
O Wurzelspross Isais,
der du dastehst als Zeichen für die Nationen –
vor dem die Könige ihren Mund schließen,
den die Völker anflehen:
komm, uns zu befreien,
säume nicht länger.
O Schlüssel Davids
und Zepter des Hauses Israel –
der du öffnest und niemand schließt;
du schließt, und niemand öffnet:
komm und führe den Gefangenen aus dem Kerker,
den, der sitzt in Finsternis und Todesschatten.
O Aufgehender,
Glanz des ewigen Lichtes,
Sonne der Gerechtigkeit:
komm und erleuchte,
die sitzen in Finsternis
und Todesschatten.
O König der Völker
und ihr Ersehnter;
du Schlussstein,
der du die beiden zu einem machst:
komm und heile den Menschen,
den du aus Lehm gebildet hast.
O Emmanuel,
unser König und Gesetzgeber,
du Erwartung der Völker
und ihr Heiland:
komm, heile uns,
Herr, unser Gott.
Die O-Antiphonen gehören zur Adventspiritualität. Traditionell werden sie auf die sieben Tage vor Weihnachten aufgeteilt. Vom 17. Dezember an wird an jedem Tag eine neue Anrufung gebetet. Doch für sich genommen, sind die Antiphonen nicht explizit auf die Geburt Christi ausgerichtet. Eine Erwartung von Jesus Christus kommt in ihnen nicht explizit vor, schon gar nicht ein Hinweis auf den Inkarnationsglauben. Sie drücken vielmehr die endzeitliche Erlösungshoffnung Israels aus, wie sie in der Hebräischen Bibel zum Ausdruck kommt. Sie sind messianisch im ursprünglichen Sinne. Gerade darum verbinden sie die Christen, die sie beten, mit dem Judentum. Die Antiphonen geben nämlich der Erlösungshoffnung eine Stimme, die Juden wie auch Christen trägt und prägt.
Die erste Antiphon ist eine Anrufung der Weisheit, durch die Gott die Welt geschaffen hat, wie im Buch der Sprichwörter und in Jesus Sirach entfaltet. Sie soll alle Menschen zur Klugheit führen. Die Anrufung «Adonai» richtet sich dann den Gott Israels, so wie dieser sich dem Mose im Dornbusch offenbart hat. Die vier Buchstaben seines Namens sind unaussprechlich. Daher wir mit adonai angesprochen, was so viel bedeutet wie «mein Herr». Die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens und die Gabe der gerechten Weisung am Sinai sollen auch heute erfahrbar werden. Der biblischen Erzählung entlang schreitet die dritte und vierte Anrufung über Isai, den Vater von David, zum König David selbst. Er ist der Gesalbte Gottes schlechthin. Vor ihm und seinen Nachkommen müssen die Könige und Herrscher der Welt verstummen. Der Messias regiert über das Haus Israel, um von da aus die ganze Menschheit immer wieder neu zu befreien. Die drei letzten Anrufungen blicken ganz in die Vollendung der Erlösung: Die Antiphon «O Aufgehender» nimmt die Vision des Propheten Maleachi auf, der von der Sonne der Gerechtigkeit spricht und zur intergenerationellen Versöhnung aufruft, bevor der Tag Gottes kommt. «O König der Völker» hat die ganze Menschheit im Blick, denn mit Abraham hat eine Geschichte mit universeller Auswirkung begonnen; allen Nationen soll Gottes Segen zugutekommen. Und die letzte Antiphon «O Emmanuel» nimmt den Gottesnamen, wie er im Jesajabuch formuliert ist auf. Er drückt die Wahrheit Gottes seit dem Exodus geschehen aus: Gott ist treu. Gott ist der Ich-bin-immer-wieder-neu-da. Gott ist mit uns. Er schenkt umfassende Heilung und stellt Recht her für alle.
Die sieben Anrufungen lassen sich also von der Hoffnung der Hebräischen Bibel leiten. Sie bitten im zweiten Teil stets darum, dass die erwartete Rettung sich in naher Zukunft, wenn nicht schon in der Gegenwahrt, erfahrbar wird. Juden beten um Erlösung aus Israel in ihren eigenen Worten. Christen sehen in der Geburt Jesu, das messianische Zeitalter anbrechen. Ob Jude oder Christ, ob Muslim oder Atheist, wer sensibel ist für die Ungerechtigkeit und Erlösungsbedürftigkeit, unter der so viele Menschen leiden, der versteht den Sehnsuchtsruf der Antiphonen. Es ist allein Gott überlassen, auf welche Art und Weise er darauf antworten will. Und falls es keinen Gott geben sollte, halten die Antiphonen wenigsten die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Heil offen.
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