Letzte Woche habe ich an einer internationalen Konferenz an der Universität Gregoriana in Rom zu Pius XII. und den Juden teilgenommen. Historiker präsentierten ihre Recherchen, die seit 2020 möglich wurden, nachdem die Vatikanischen Archive zu seiner Amtszeit während der Schoa zugänglich wurden. Das seit Rolf Hochhuths Theaterstück «Der Stellvertreter» kontroverse Schweigen von Pius XII. zur Judenvernichtung wurde durch christliche und jüdische Forscher und Forscherinnen wohltuend in einen breiten Horizont gestellt. Die Konferenz hat gezeigt: Bis heute ist das Thema hoch emotional, zumal in Rom, da die jüdische Gemeinde vor Ort am 16. Oktober 1943 vor den Augen des Papstes zum Teil deportiert wurde – rund 1000 Personen – , während die Rettung von gut 3000 Juden in Klöstern von Rom debattiert wird. Eine Namenliste dieser versteckten Juden, die Anfang September der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wurde auch an der Konferenz besprochen und hat grosses Interesse hervorgerufen.
Die Vorträge thematisierten den Sprachgebrauch der vatikanischen Diplomatie zum Nationalsozialismus und zum Krieg im Allgemeinen. Sie zeigten wie die Päpste seit dem ersten Weltkrieg ihre Position als Kirchen- und als Staatsoberhaupt in der Welt der Nationen suchten. Dazu kamen Analysen zur Diplomatie, die angesichts der Schoa an ihre Grenzen stiess. Die Nuntiaturen in Polen, wo der Holocaust besonders viele Opfer forderte, wurden beleuchtet, aber auch das Beispiel Vichy-Frankreich. Der selbstverständliche, kirchlichen Antijudaismus, der dem Antisemitismus oft nur allzu leicht in die Hand spielte, wurde fast in allen Vorträgen sichtbar. Er wurde an verschiedenen Briefwechseln von Kirchenführern aufgezeigt, aber auch am Apostolischen Gebetsapostolat des Papstes, das traditionell um Judenbekehrung betete und die aktuelle Situation kaum berücksichtige. Bekämpfung der Säkularisierung, des Nationalsozialismus wie auch des Kommunismus standen während und nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr im Zentrum der Kirchenpolitik, dass darüber die Judenfrage sekundär war. Auch nach dem Krieg wollte man den Kommunismus bekämpfen und eher humanitär und karitativ helfen oder auf Milde hinarbeiten, als die Täter wirklich zur Rechenschaft zu ziehen. Beispiele wie die Kirche sich zu den Nürnberger Prozessen verhalten hat und wie sie Nazis half, vor den Kommunisten zu fliehen, wurden präsentiert. Dass über 30’000 Bittschriften von Juden während des Kriegs an Pius XII. gerichtet wurden, zeigt, dass man von ihm Hilfe erwartete. Verschiedene Beiträge zeigten, welche Weg solche Bittschriften nahmen und was ihr Inhalt war. Oft konnte geholfen werden, oft auch nicht.
Vielleicht kann die Haltung des Vatikans in drei Punkten zusammengefasst werden: Er kämpfte zuerst für die eigenen Interessen, die Kirche von der Bedrohung des Nazismus, Kommunismus und Atheismus zu schützen. Dann waren die eingespielten Handlungsweisen der Diplomatie und der Kirchenpolitik angesichts des Totalitarismus und Judenvernichtung zu schwach. Über die eigenen Denk- und Handlungshorizonte konnte die Leitung der Kirche kaum springen. Schliesslich hat der kirchliche Antijudaismus zutiefst den Blick versperrt und den Widerstand gegen den Antisemitismus stark ausgebremst. Trotzdem versuchten Kirchenbeamte zu helfen, persönlich, karitativ, menschlich. Vielleicht kann die Haltung von Pius XII. mit Diplomatie einerseits und verborgenem Widerstand andrerseits charakterisiert werden. Er hatte als religiöses wie auch als Staatoberhaupt zu agieren.
Aus heutiger Perspektive kann man Pius XII. viel vorwerfen. Danach ist man immer klüger. Von der Kirche darf man angesichts der Schoa auch mehr erwarten als von irgendjemandem. Vor allem ist enttäuschend, dass die Kirche nach dem Krieg nicht in die Führung der Aufarbeitung gegangen ist. Das Konzilsdokument Nostra aetate mit der Neupositionierung der Kirche gegenüber dem Judentum 1965 erscheint nämlich fast wie ein Wunder. Der Heilige Geist muss da besonders gewirkt haben, ob wohl es dazu auch Vorarbeiten gab, wie einige Beiträge am Ende der Konferenz herausgearbeitet haben.
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