Bibel spirituell gelesen - jüdisch und christlich
- christianrutishaus
- 31. Juli
- 6 Min. Lesezeit

Das Neue Testament besteht aus jüdisch-messianischen Schriften, die im Licht des Christusgeschehens das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden thematisieren. Sie sind ein messianischer Kommentar zum Tenach, zur jüdischen Bibel. Zu christlichen Schriften wurden sie im Augenblick, als sie zum Neuen Testament zusammengestellt und mit dem zum Alten Testament umgeformten Tenach vereinigt wurden. So entstand gegen Ende des 2. Jh. die doppelte Bibel der Christen, während sich das rabbinische Judentum formte, das neben den Tenach als schriftliche Tora die mündliche Tora stellte, deren Kern in der Mischa und im Talmud festgehalten wird. So formierten sich beide Glaubensgemeinschaften als zwei Lerngemeinschaften jenseits des Tempelkults.
Die Evangelien jüdisch gelesen
Jesus tritt in Galiläa als Volkslehrer der Tora auf und sammelt Jünger und Jüngerinnen um sich. Sie stellen sein Wirken als Aktualisierung und Vergegenwärtigung des Exodus durch das Schilfmeer und des Wanderns durch die Wüste vom Berg Sinai aus dar. So hält Jesus die Rede auf einem Berg (Mt 5-7) und spricht daselbst mit Mose und Elija (Lk 9,28-36). Wiederholt zieht er mit seinen Jüngern über das Wasser (Mt 8,23-27; 14,22-34 etc.) und speist die Menschenmenge mit Brot (Mk 6,30-44; Mk 8,1-9; Joh 6), wie Gott einst die Israeliten mit Manna in der Wüste ernährte. Die Bücher Ex-Dtn bilden Horizont und Subtext von Jesu Zeit in Galiläa, so dass sein Hinaufziehen nach Jerusalem parallel zur Landnahme seines Namensvetters Joshua gelesen werden kann. Joshuas Einzug wird als kriegerische Gewaltgeschichte erzählt (Jos 1-12), Jeshuas Einzug endet in Jerusalem auch in Gewalt, freilich im umgekehrten Sinn. Obwohl Jesus treu seinem Grundsatz „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben.“ (Mt 5,5) handelt, wird er zum Folteropfer am Kreuz. Auf Joshuas Geschichte folgt das Davidische Königreich und ein jüdisches Volk, das sich bis heute an Jerusalem ausrichtet. Aus Jesu Auferweckung von den Toten geht eine Kirche hervor, die aus dem Geist des erhöhten Christus lebt und sich nach dem himmlischen Jerusalem ausstreckt.
Auch die Genesis ist gerade im Johannesevangelium allgegenwärtig. Der Prolog setzt mit dem berühmten „Im Anfang war das Wort“ an, und die ersten beiden Kapitel werden als neue Schöpfungswoche. „Am Tag darauf“ klingt wie ein Refrain durch Joh 1 (v 29; v 35; v 43). Nach vier Schöpfungstagen folgt das „Am dritten Tag“ (Joh 2,1); die Schöpfungswoche findet mit einem Hochzeitsfest eine erste Vollendung. Zugleich verweist sie auf Jesu Abschiedsmahl und ein himmlisches Mahl. Es folgen Neuschöpfungen in konzentrischen Kreisen von Jerusalem aus: 1.) Der Tempel wird nicht nur gereinigt, sondern Jesus vertreibt alles, was für den Opferdienst notwendig ist; im Geiste wird der Tempel zerstört und soll im Leib des Auferstandenen, im Gottes Volk neu errichtet werden. (Joh 2,13-22) 2.) Nikodemus, der Schriftgelehrte und Pharisäer lernt, im Geist neu geboren zu werden. (Joh 3,1-21) 3.) Die Samaritanerin wird durch Biographiearbeit zur inneren Quelle geführt. Innerlich neu erschaffen, beginnt sie religionsvergleichende Fragestellungen zu stellen: Wird auf dem Garizim oder in Jerusalem richtig angebetet? (Joh 4,1-26) 4.) Schließlich wird das Kind des heidnischen, königlichen Beamten von Kafarnaum geheilt und muss nicht sterben. (Joh 4, 43-54) Durch Heilungen führt Jesus als Messias die Schöpfung der Vollendung entgegen.
Vom vierfachen Schriftsinn
Die Bibel spirituell zu lesen bedeutet, die geistige Botschaft aus den Worten, Symbolen und aus dem Aufbau der Texte herauszulesen. Im Geist des Gottes Israels und im Geist Jesu Christi wirden die Motive durch alle biblischen Bücher hindurch aufeinander bezogen. Es gilt, verschiedene Sinndimensionen freizulegen. Die jüdische wie die christliche Tradition des Mittelalters haben je versucht, diese Tiefenaskpete zu unterscheiden und zu systematisieren. Der ursprüngliche Textsinn wird Hebräisch pschat genannt. Wird eine Stelle im Licht von anderen Aussagen des Tenach gelesen oder mit anderen Stellen verbunden oder konfrontiert, wie wir dies gerade an Evangelien gezeigt haben, nennt man dies einen derasch, ein Suchen vertiefter Einsicht.
Ein wunderschönes Beispiel für einen derasch bzw. einen Midrasch aus der Tradition, wie wir sie bei den Wochenenden Bibel spirituell gelesen immer wieder heranziehen, stellt die Interpretation von Gen 22,2 dar, worin Gott Abraham auffordert, seinen Sohn Isaak zu opfern: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar!“ Die Rabbiner fragen sich, ob Abraham gegenüber diesem Befehl keinen Widerstand geleistet hat. Sie kommen zum Schluss, er habe mit Gott wie der Gottesstreiter Jakob gerungen. So lesen sie den Vers als Aufforderung Gottes, dem sich Abraham widerstrebend ins Wort wirft und sich erst dann ergibt. Ihre Lesart lautet: Gott: Nimm deinen Sohn. Abraham: Ich habe zwei Söhne. Gott: Deinen einzigen. Abraham: Der eine ist der einzige seiner Mutter (Isaak von Sara) und der andere ist der einzige seiner Mutter (Ismael von Hagar). Gott: Den du liebhast. Abraham: Ich habe beide lieb. Gott: Isaak. (vgl. BerRab zu Gen 22,2)
Zwei weitere Sinnebenen werden traditionell unterschieden. Auch wenn der Text nämlich mit Ideen aus Gesellschaft und Kultur in Dialog gebracht wird, beginnt er neu zu sprechen. Diese Methode wird remes genannt, ein Verweisen. Das Wort sod bezeichnet den mystischen Sinn eines biblischen Textes. Michael Fishbane hat in seiner jüdischen Theologie diese vierfache Herangehensweise gut erklärt. Zugleich unterstreicht er, dass sie ein Instrument sind, auch die gesamte Wirklichkeit tiefer zu verstehen.[1] Auch Schöpfung und Natur, Kultur und Gesellschaft wollen in dieser Weise auf eine Tora kelula hin gelesen werden, auf die Fülle der Weisung Gottes hin.
Ähnlich spricht auch die christliche Theologie davon, die Natur als Schöpfung Gottes und als zweites Buch neben der Bibel zu lesen. Beim Erschließen des vierfachen Schriftsinn geht auch sie vom ursprünglichen Textsinn aus. Dieser darf nicht mit einem fundamentalistischen, wortwörtlichen Bibelverständnis verwechselt werden. Er ergibt sich vielmehr aus der Aussageabsicht des Autors und dem Kontext, in den hinein der Text ursprünglich geschrieben wurde. Die mittelalterliche Systematisierung bezeichnet die drei weiteren Sinnebenen als ethischen Sinn, Glaubenssinn und mystischem Sinn. Der Merkspruch aus dem 13. Jh. bringt diesen Bedeutungsreichtum und seine Erschließung auf den Punkt: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quid speres anagogia. „Die wortwörtlichen Dinge lehren, was man im übertragenen Sinn glaubt, was man in der Ethik tut und was man in der Vertiefung erhofft.“
Juden und Christen lesen je geistlich
Die traditionelle, christlich-spirituelle Lektüre des Alten Testaments, die den Glaubenssinn herausarbeitete, suchte zu erkennen, wie Christus, der dreieinige Gott oder das Neue Testament darin aufscheint. Die messianischen Psalmen 2 und 110 zum Beispiel, die vom durch Gott eingesetzten König in Israel sprechen, werden auf Christus bezogen. Auch der gerechte Psalmbeter, der Leid ertragen muss (vgl. Ps 22; 26; 35), oder der Gottesknecht bei Jesaja (Jes 42-53) werden als leidender Christus interpretiert. Damit folgt diese traditionelle Lesart der neutestamentlichen Auslegung, die das ganze Christusgeschehen von der Tora her deutet und erzählt. Sie liest zusammen mit den Kirchenvätern das Alte Testament auch typologisch. Die Kirchenväter haben zum Beispiel im Durchzug durch das Schilfmeer, bei dem die ägyptische Kultur zurückgelassen wurde und die ägyptischen Unterdrücker umkamen, als Bild, d.h. als Typus, für die Taufe gedeutet, die das Böse im Menschen vernichtet und zu einem neuen und gerechten Leben führt.
Eine erneuerte christliche, spirituelle Lesart, die sich Nostra aetate verpflichtet weiss und in wertschätzender Lerngemeinschaft mit Juden und Jüdinnen denkt, muss die traditionelle Weise reformieren. Spirituell ist der Tenach nicht erst, wenn er auf Christus bezogen und im Licht des Neuen Testaments gelesen wird. Er hat seine eigene spirituelle Botschaft. Er entfaltet diese gerade in der rabbinischen Auslegung. Daher ist der Einbezug von Midraschim aus der rabbinischen Tradition so entscheidend. Die mündliche Tradition der Toraüberlieferung zeigt, wie jüdisches Lernen sich nicht mit totem Buchstaben befasst, sondern geführt ist vom lebendigen Geist des Gottes Israels. In der chevruta können die Christen viel davon lernen. So ist christliche Auslegung nicht die einzige Auslegung der hebräischen Bibel. Wenn zum Beispiel das Matthäusevangelium immer wieder davon spricht, dass sich die Schrift erfüllt, so ist dies weder exklusiv zu verstehen, dass sich die Schrift nur im Christusgeschehen erfüllt, noch ist damit der Tenach abgehakt und erledigt. Heinz-Günther Schöttler hat herausgearbeitet, dass mit den Schriftzitaten in den Evangelien die Vergegenwärtigung und bleibende Gültigkeit der Tora unterstrichen wird.[2] So übersetzt er „damit sich die Schrift erfüllt“ mit „dass sich bestätigt, was geschrieben worden ist.“ Insofern wird gerade das Neue Testament zu einem Kommentar des Alten Testaments und nicht umgekehrt.
Auszug aus meinem neusten Aufsatz in: Bibel spirituell gelesen – jüdisch und christlich, in: Andreas Renz/Helga Schiffer/Winfried Verburg (Hg.), Wegmarken. Religion-Kultur-Spiritualität. Festschrift für Michael Langer, Friedrich Pustet Regensburg 2025, S. 111-117.
[1] Michael Fishbane, Einstimmung auf das Heilige. Eine jüdische Theologie, Herder: Freiburg Basel Wien 2023, 107-159.
[2] Heinz-Günther Schöttler, Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum, Judentum-Christentum-Islam. Interreligiöse Studien Bd 13, Ergon: Würzburg 2016, 47-156.






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