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Pfingsten/Schavuot - spirituelle und intellektuelle Erneuerung

christianrutishaus

Pfingsten hat seinen Namen vom Zählen: 50 Tage nach Ostern. Im französischen Pentecôte oder im englischen Pentecost ist die griechische Zahl noch gut herauszuhören. Auch vom jüdischen Pessach-Fest an, das am Frühlingsvollmond gefeiert wird – Ostern fällt immer auf den Sonntag danach – , wird Omer gezählt. Und das Fest nach 7 Wochen, also nach 49 Tagen, heisst einfach Wochenfest, Schavuot. Pfingsten und Schavuot zusammenzuschauen bereichert. Wenn sich zwei Traditionen, die sich auseinandergelebt haben, wieder begegnen, entsteht ein vertiefter, ein Stereoblick. Schliesslich ist das Christentum messianisches Judentum für nicht Nicht-Juden, so wie das Judentum im Christentum einen Weg sehen kann, wie die frohe Botschaft der Gerechtigkeit, Freiheit und Barmherzigkeit des Gottes Israels die ganze Menschheit zu durchdringen beginnt. Das Christentum ist keineswegs in der Geschichte gescheitert, wie das ein auf Europa fixierter Blick eines Peter Sloterdijk behauptet. Vielmehr sind Judentum und Christentum mit den säkularen und humanistischen Kulturen, die aus ihnen hervorgegangen sind, weiterhin Sauerteig der Transformation. Das Krisen und Umbrüche dazugehören, versteht sich von selbst. Sauerteig aber kann nur eine Minderheit sein. Noch braucht es etwas Zeit, bis die Kirche die Chance entdeckt, eine Minderheit zu sein.

Wird an Pfingsten die Gabe von Gottes Geist gefeiert, so ist es die Gabe des Geistes Christi. Dieser Geist mag zu Ekstase und Zungenrede, zu Dadaismus und Anarchie führen. Zuweilen müssen schliesslich verkrustete Gesellschaftsstrukturen aufgebrochen werden. Zuweilen muss der Mensch die Enge von Raum und Zeit, von Vernunft und Norm transzendieren. Doch vor allem ist der Pfingstgeist der schöpferische Geist, der belebet, in Beziehung bringt, den Menschen aus sich herausdrängt und so Gemeinschaft und Gesellschaft erzeugt. Gottes Geist muss vom Geist des Menschen unterschieden werden. Doch wenn sie sich gegenseitig durchdringen, dann entsteht ein Lebensraum und eine Kultur der Freiheit, in der sich atmen lässt. Pfingsten ist zudem ein Sprachfest. Missverständnisse weichen der geglückten Kommunikation.. Auch Geist und Wort können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sind das achtsame Hören und Schweigen einerseits und das sinnstiftende und verstehende Wort andrerseits. Nur so weicht die „Vergegnung“, von der Martin Buber sprach, der Begegnung. Schon der auferstandene Christus in den Evangelien ist der Exeget und Hermeneut. Er hilft, die Vorkommnisse rund um seinen Tod am Kreuz zu deuten. Unterwegs mit seinen Anhängern nach Emmaus, öffnet er ihnen die Augen des Geistes und das Empfinden des Herzens, damit sie die Tora neu verstehen.

Um das geistvolle Lernen aus der Tora geht es auch an Schavot. Das Judentum feiert die Gabe der Tora. Zu ihr gehört der Auftrag, in der Freude die Worte der Tora kreativ auszulegen, weiterzuschreiben, am Haus der Sprache zu bauen, damit die Welt wohnlich wird. „Sie ist nicht im Himmel“, heisst es in der berühmten Talmudstelle vom Ofen des Aknai. Die Tora ist gegeben, nicht damit der Mensch sich ihr sklavisch unterwerfe, sondern dass er Weisung empfange, die Herausforderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gerecht und menschenwürdig zu gestalten. In Freiheit soll immer tieferer Sinn erforscht und erzeugt werden. Wie Buchstabe und Geist das unzertrennbare Binom des Christentums sind, so die schriftliche und die mündliche Tora das unverbrüchliche Paar des rabbinischen Judentums. Im Dialog mit der Wissenschaft und Kultur werden neue Einsichten erzeugt. So hat es die Orthodoxie im Deutschland des 19. Jahrhundert formuliert, so ist das Programm der modern orthodoxy seit dem 20. Jahrhundert. Die Tradition wird fortgeschrieben. Sie bewahrt zugleich davor, nur im Zeitgeist mit seinem Denkhorizont aufzugehen. Wer nämlich den Zeitgeist heiratet, ist allzu rasch wieder geschieden.

Pfingsten und Schavuot sind auf ihre Weise je spirituell-intellektuelle Feste. Sie rufen zur Unterscheidung der Geister auf. Dem Ungeist der Angst und Resignation, der lähmt und misstrauisch macht, wird Hoffnung entgegengesetzt, ein Nein gegenüber der Verzweiflung. Dem Aber-Geist wird der Zahn gezogen, so dass Ausreden und falsche Vergleiche mit Anderen nicht mehr möglich sind. Und dem naiven Macher- und Fortschrittsgeist, der so viel Unheil und Naturzerstörung in den letzten Jahrzehnten erzeugt hat, wird die Illusion genommen, dass er nun auf einmal die Welt retten könne. Was ist der Mensch und sein Geist, dass er dazu fähig wäre? Nicht der Geist, der die Probleme erzeugt hat, kann sie auch lösen. Es braucht einen neuen Geist, der in der inneren Transformation des Menschen ansetzt, der weise ist, die mystischen Quellen mit philosophischer Klugheit zu paaren. Jeder Mensch soll sich anstrengen und mit allen Kräften das Gute tun und die Schöpfung verantwortungsvoll gestalten – immer aufeinander hörend und einander zuarbeitend. Dann wird sich der Geist Gottes dazugesellen und die Welt erneuern, wie es kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat, wie es keinem Menschen in den Sinn gekommen ist, um Paulus zu paraphrasieren. Die „gesellige Gottheit“ (Kurt Marti) wird zusammen dem Menschen, der schöpferisch lebt, die Welt erneuern.



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1 Comment


rosi.steffens
Jun 05, 2022

Das bringt zum Nachdenken über den Menschen und seine Verbindung mit oder auch zu Gott. Wird dieser Verbindung mit Jesus ein neuer Zugang angeboten, der ohne seine Geburt aus der Schrift im Verborgenen geblieben wäre? Ich bin am Ende meiner Weisheit angelangt und deshalb dankbar für Gott. Er lässt den Glauben begründen, was an der Liebe zum Vater herangewachsen ist und in ihm den Dialogpartner findet, der sie von Beginn an begleitet hat und damit immer wieder verbindet, was schon immer miteinander verbunden war. So vieles bleibt offen und ist doch bereits abgeschlossen. Ich danke Ihnen und Ihren Ordensbrüdern, insbesondere Pater Hagenkord und Franziskus, dass sie meine Liebe mit ihrem Glauben an Jesus beantwortet haben. Es ist nicht gewöhnlich, dass…

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Über mich

P. Dr. Christian M. Rutishauser SJ

Delegat für Hochschulen der

Zentraleuropäischen Jesuitenprovinz

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